Zum Dritten ist der ein armer Mensch, der nichts hat. Viele Menschen haben
gesagt, das sei Vollkommenheit, dass man
nichts von den leiblichen Dingen dieser Erde hat, und das ist in einem gewissen
Sinne schon wahr, wenn einer es mit Willen tut. Aber dies ist nicht der Sinn,
den ich meine.
Ich habe vorhin gesagt,
der sei ein armer Mensch, der nicht den Willen Gottes erfüllen will, sondern so
leben will, dass er seines eigenen Willens und des Willens Gottes so entledigt
sei, wie er war, als er nicht war. Von dieser Armut sagen wir, dass sie die
ursprünglichste Armut sei. Zweitens sagen wir, das sei ein armer Mensch, der
die Werke Gottes in sich selber nicht kennt. Wer so des Wissens und Erkennens
ledig steht, wie Gott aller Dinge ledig steht, das ist die offenbarste Armut.
Aber die dritte Armut, von der ich sprechen will, das ist die tiefste, nämlich,
dass der Mensch nichts hat.
Ich habe oft
gesagt, und es sagen es auch große Meister, der Mensch solle von allen Dingen und
allen Werken, sowohl innerlich wie äußerlich, so abgelöst sein, dass er eine
Eigenstätte Gottes sein könne, worin Gott wirken könne. Jetzt aber künden wir
es anders.
Steht die Sache so, dass der Mensch von allen Dingen abgelöst steht, von allen Kreaturen, von sich selbst und von Gott, und Gott findet in ihm eine Stätte, darin zu wirken, so sagen wir: Solange das in dem Menschen ist, ist der
Mensch nicht arm in der tiefsten Armut, denn Gott ist nicht der Meinung [denn es ist nicht das Ziel Gottes] mit
seinen Werken, der Mensch solle eine Stätte in sich haben, worin Gott wirken
könne. Das ist Armut des
Geistes: dass der Mensch von Gott und allen seinen Werken so abgelöst steht, dass
Gott, wenn er in der Seele wirken will, selbst die Stätte sei, worin er wirken
will, und das tut er gerne. Denn findet Gott den Menschen so arm, so wird Gott die eigene Stätte seiner eigenen Werke, weil Gott in sich selbst wirkt.
Da erlangt der Mensch in dieser Armut das ewige
Wesen, das er gewesen ist und das er jetzt ist und das er in Ewigkeit leben
soll.
Daher sagen wir, wo der Mensch noch eine solche
Stätte behält, dort hält er am Unterschied fest. Darum also bitte ich Gott,
dass er mich ablöse von Gott, da mein wesentliches Wesen oberhalb Gottes steht,
sofern wir Gott begreifen als den Ursprung der Geschöpfe. Denn in dem selben
Wesen Gottes, aufgrund dessen Gott oberhalb von Sein und Unterschied steht, da
war ich selbst. Und dort wollte ich mich selbst und dort erkannte ich mich
selbst als den, der diesen Menschen schuf.(1)
Und darum bin ich geboren und kann nach der Weise meiner
Geburt, die ewig ist, niemals ersterben. Nach der Weise meiner ewigen Geburt
bin ich ewiglich gewesen und bin jetzt und soll ewiglich bleiben. Was ich nach
der Zeit bin, das soll sterben und soll zunichte werden, denn es ist des Tages;
darum muss es mit der Zeit verderben. In meiner Geburt wurden alle Dinge
geboren, und ich war Ursache meiner selbst und aller Dinge, und wollte ich, so
wäre ich nicht noch alle Dinge, und wäre ich nicht, so wäre Gott nicht. Es ist
nicht nötig, dies zu verstehen.
Ein großer Meister sagt, sein Münden sei höher als
sein Entspringen. Als ich aus Gott entsprang, da sprachen alle Dinge: Gott ist
da. Nun kann mich das nicht selig machen, denn hier erkenne ich als Kreatur;
dagegen in dem Münden, wo ich ledig stehe des Willens Gottes und aller seiner Werke und Gottes selbst, da bin ich über allen Kreaturen und bin weder
Gott noch Kreatur, sondern ich bin, was ich war und was ich bleiben soll jetzt
und immerdar. Da erhalte ich einen Ruck, der mich über alle Engel schwingen
soll.
Von diesem Ruck empfange ich so reiche Fülle, dass mir
Gott nicht genug sein kann mit alledem, was er Gott ist, mit all seinen
göttlichen Werken, denn mir wird in diesem Münden zuteil, dass ich und Gott
eins sind. Da bin ich, was ich war, und da nehme ich weder ab noch zu, denn ich
bin da eine unbewegliche Ursache, die alle Dinge bewegt. Hier findet Gott
keine Stätte im Menschen, denn der Mensch erlangt mit seiner Armut, was er
ewiglich gewesen ist und immer bleiben soll. Hier ist Gott im Geist eins,
und das ist die tiefste Armut, die man finden kann.
Wer diese Rede nicht versteht, der bekümmere sein Herz
nicht damit. Denn solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleicht, so lange
wird er diese Rede nicht verstehen, denn es ist eine Wahrheit, die nicht
ausgedacht ist, sondern unmittelbar gekommen aus dem Herzen Gottes. Dass wir so leben mögen, dass wir es ewig empfinden, das
walte Gott. Amen.
Meister Eckhart
(1) Abschnitt in der Übersetzung von Kurt Flasch