Montag, 2. Juli 2012

Von der Armut des Geistes (3)



Zum Dritten ist der ein armer Mensch, der nichts hat. Viele Menschen haben gesagt, das sei Vollkommenheit, dass man nichts von den leiblichen Dingen dieser Erde hat, und das ist in einem gewissen Sinne schon wahr, wenn einer es mit Willen tut. Aber dies ist nicht der Sinn, den ich meine.
Ich habe vorhin gesagt, der sei ein armer Mensch, der nicht den Willen Gottes erfüllen will, sondern so leben will, dass er seines eigenen Willens und des Willens Gottes so entledigt sei, wie er war, als er nicht war. Von dieser Armut sagen wir, dass sie die ursprünglichste Armut sei. Zweitens sagen wir, das sei ein armer Mensch, der die Werke Gottes in sich selber nicht kennt. Wer so des Wissens und Erkennens ledig steht, wie Gott aller Dinge ledig steht, das ist die offenbarste Armut. Aber die dritte Armut, von der ich sprechen will, das ist die tiefste, nämlich, dass der Mensch nichts hat.

Ich habe oft gesagt, und es sagen es auch große Meister, der Mensch solle von allen Dingen und allen Werken, sowohl innerlich wie äußerlich, so abgelöst sein, dass er eine Eigenstätte Gottes sein könne, worin Gott wirken könne. Jetzt aber künden wir es anders.
Steht die Sache so, dass der Mensch von allen Dingen abgelöst steht, von allen Kreaturen, von sich selbst und von Gott, und Gott findet in ihm eine Stätte, darin zu wirken, so sagen wir:  Solange das in dem Menschen ist, ist der Mensch nicht arm in der tiefsten Armut, denn  Gott  ist nicht der Meinung [denn es ist nicht das Ziel Gottes] mit seinen Werken, der Mensch solle eine Stätte in sich haben, worin Gott wirken könne. Das ist Armut des Geistes: dass der Mensch von Gott und allen seinen Werken so abgelöst steht, dass Gott, wenn er in der Seele wirken will, selbst die Stätte sei, worin er wirken will, und das tut er gerne. Denn findet Gott den Menschen so arm, so wird Gott die eigene Stätte seiner eigenen Werke, weil Gott in sich selbst wirkt.
Da erlangt der Mensch in dieser Armut das ewige Wesen, das er gewesen ist und das er jetzt ist und das er in Ewigkeit leben soll.
Daher sagen wir, wo der Mensch noch eine solche Stätte behält, dort hält er am Unterschied fest. Darum also bitte ich Gott, dass er mich ablöse von Gott, da mein wesentliches Wesen oberhalb Gottes steht, sofern wir Gott begreifen als den Ursprung der Geschöpfe. Denn in dem selben Wesen Gottes, aufgrund dessen Gott oberhalb von Sein und Unterschied steht, da war ich selbst. Und dort wollte ich mich selbst und dort erkannte ich mich selbst als den, der diesen Menschen schuf.(1)
Und darum bin ich geboren und kann nach der Weise meiner Geburt, die ewig ist, niemals ersterben. Nach der Weise meiner ewigen Geburt bin ich ewiglich gewesen und bin jetzt und soll ewiglich bleiben. Was ich nach der Zeit bin, das soll sterben und soll zunichte werden, denn es ist des Tages; darum muss es mit der Zeit verderben. In meiner Geburt wurden alle Dinge geboren, und ich war Ursache meiner selbst und aller Dinge, und wollte ich, so wäre ich nicht noch alle Dinge, und wäre ich nicht, so wäre Gott nicht. Es ist nicht nötig, dies zu verstehen.
Ein großer Meister sagt, sein Münden sei höher als sein Entspringen. Als ich aus Gott entsprang, da sprachen alle Dinge: Gott ist da. Nun kann mich das nicht selig machen, denn hier erkenne ich als Kreatur; dagegen in dem Münden, wo ich ledig stehe des Willens Gottes und aller seiner Werke und Gottes selbst, da bin ich über allen Kreaturen und bin weder Gott noch Kreatur, sondern ich bin, was ich war und was ich bleiben soll jetzt und immerdar. Da erhalte ich einen Ruck,  der mich über alle Engel schwingen soll.
Von diesem Ruck empfange ich so reiche Fülle, dass mir Gott nicht genug sein kann mit alledem, was er Gott ist, mit all seinen göttlichen Werken, denn mir wird in diesem Münden zuteil, dass ich und Gott eins sind. Da bin ich, was ich war, und da nehme ich weder ab noch zu, denn ich bin da eine unbewegliche Ursache, die alle Dinge bewegt. Hier findet Gott keine Stätte im Menschen, denn der Mensch erlangt mit seiner Armut, was er ewiglich gewesen ist und immer bleiben soll. Hier ist Gott im Geist eins, und das ist die tiefste Armut, die man finden kann.



Wer diese Rede nicht versteht, der bekümmere sein Herz nicht damit. Denn solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleicht, so lange wird er diese Rede nicht verstehen, denn es ist eine Wahrheit, die nicht ausgedacht ist, sondern unmittelbar gekommen aus dem Herzen Gottes. Dass wir so leben mögen, dass wir es ewig empfinden, das walte Gott. Amen.



Meister Eckhart


Quelle:  Meister Eckarts Mystische Schriften, hrsg. von Gustav Landauer,1903 http://www.marschler.at/eckhart-landauer/meister-eckhart-mystische-schriften.pdf


(1) Abschnitt in der Übersetzung von Kurt Flasch



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