Donnerstag, 21. Juli 2011

Die Zeit wird kommen und ist schon jetzt

Unser Herr sprach: »Frau, die Zeit wird kommen und ist schon jetzt, wo die wahren Anbeter den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten, und solche suchet der Vater.«
Nun achtet auf das erste Wörtlein, wo er spricht: »Die Zeit wird kommen und ist schon jetzt.« Wer da den Vater anbeten will, der muss sich in die Ewigkeit versetzen mit seinem Begehren und mit seiner Zuversicht. Es gibt einen obersten Teil der Seele, der steht über der Zeit und weiß nichts von der Zeit noch vom Leibe. Alles was je geschah vor tausend Jahren, der Tag, der vor tausend Jahren war, der ist in der Ewigkeit nicht ferner als diese Stunde, wo ich jetzt stehe, und der Tag, der nach tausend Jahren kommen wird oder soweit du zählen kannst, der ist in der Ewigkeit nicht ferner als diese Stunde, worin ich jetzt stehe.

Meister Eckhart

Dienstag, 5. Juli 2011

Das ist es, was ich liebe, wenn ich Dich, meinen Gott, liebe

Ich liebe Dich, nicht mit zweifelndem, sondern mit sicherem Bewusstsein. Du hast mit Deinem Wort mein Herz erschüttert und ich habe Dich geliebt. Auch der Himmel und die Erde und alles, was in ihnen ist, sieh, von allen Seiten her sagen sie mir, dass ich Dich lieben soll.
Was aber liebe ich, wenn ich Dich liebe? Nicht das Aussehen eines Körpers und nicht die Anmut eines Lebensalters, nicht den Glanz des Lichtes, der diesen leiblichen Augen so lieb ist, nicht die süßen Melodien vielfältiger Gesänge, nicht den lockenden Duft von Blüten, Salbölen und Gewürzen, nicht Manna und nicht Honig, nicht Körperteile, die sich zu fleischlichen Umarmungen anbieten – nichts von alledem liebe ich, wenn ich Dich liebe.
Und doch liebe ich eine Art von Licht, von Stimme, von Wohlgeruch, von Speise und von Umarmung, wenn ich Dich liebe, denn Du bist das Licht, die Stimme, der Wohlgeruch, die Speise und die Umarmung meines inneren Menschen. Dort drin in meiner Seele strahlt ein Licht, das keine Welt fasst, dort klingen Melodien, die keine Zeit verschlingt, dort duften Wohlgerüche, die kein Wind verweht, dort schmecken Speisen, deren keine Sattheit satt wird, dort lacht ein Glück vereinter Liebe, dem ein Überdruss nicht folgt. Das ist es, was ich liebe, wenn ich Dich, meinen Gott, liebe.

Augustinus von Hippo [Bekenntnisse X,6,8]

Montag, 4. Juli 2011

Das Licht dieser Welt verdeckt das Bild Gottes in uns

"Achtet nicht - spricht das Buch der Liebe (das Hohelied) - darauf, dass ich braun bin; ich bin dennoch schön und wohlgestaltet, aber die Sonne hat mich verfärbt."
Die Sonne ist das Licht dieser Welt und bedeutet das Höchste und das Beste, das da geschaffen und gemacht ist. Sie verdeckt und verfärbt [aber] das Bild Gottes in uns.
"Entfernt - spricht Salomo in den Sprüchen- den Rost von dem Silber, dann leuchtet und glänzt das allerblankeste Gefäß" nämlich das Urbild Gottes Sohn, in der Seele....
Denn der Mensch muss aus allen Bildern und aus seinem [niederen] Ich ausgehen und all dem gar fern und ungleich werden, wenn er den Sohn aufnehmen, ja wenn er den Sohn werden will, in des Vaters Schoß und in den Vaters Herzen.

Meister Eckart

Sonntag, 3. Juli 2011

Gottes Schauen und unser Schauen

Der Mensch erkennt sich selbst ebenso wenig wie die anderen Dinge; das tut Gott allein... Wenn aber die Seele erkennt, dass sie Gott erkennt, so erkennt sie sowohl Gott wie sich selbst.
Gottes Schauen und unser Schauen sind einander ganz fern und ungleich. Darum sagt unser Herr gar wohl, dass ein Mensch hinausging in ein fernes Land, sich ein Reich zu gewinnen, und zurückkam. Denn der Mensch muss in sich selber eins sein und muss das in sich suchen und in dem Einen: auch muss er empfangen in dem Einen, das heisst: Gott allein schauen. Und "zurückkommen" (nach dem Gang ins ferne Land), das bedeutet: wissen und erkennen, dass man Gott erkennt und dies auch weiß.
Ich, so spricht unser Herr in dem Propheten Hosea, will die Seele in eine Einöde führen und da will ich in ihr Herz hineinsprechen... Der Eine in dem Einen ewiglich.

Meister Eckart

Die Seele hat zwei Augen

Die Seele hat zwei Augen, ein nach innen und ein nach außen gewandtes Auge. Das innere Auge der Seele ist das, das in das Wesenhafte hineinblickt und sein Wesen von Gotte unmittelbar empfängt. Das ist sein eigentliches Werk.
Das äußere Auge der Seele ist jenes, das den Kreaturen zugewandt ist; es ist das Auge, das sie in bildhafter Weise und in der Form einer Kraft wahrnimmt.
Wer nun in sich gekehrt ist, dass er Gott seinem ureigenen Geschmack und in seinem eigenem Grund erkennt, ein solcher Mensch ist befreit von allenen geschaffenen Dingen.

Meister Eckhart