Die Seligkeit tat ihren
Mund der Weisheit auf und sprach:
»Selig sind die Armen des Geistes, das
Himmelreich ist ihrer.« [...]
Etliche Leute haben mich gefragt,
was Armut sei? Darauf wollen wir antworten. [...]
Das ist ein armer Mensch,
der nichts will und nichts weiß und nichts hat. Von diesen drei Punkten will
ich sprechen.
Zum Ersten also heißt der ein armer Mensch, der
nichts will.
Wenn mich nun einer fragt,
was denn ein armer Mensch sei, der nichts will, so antworte ich und spreche so.
Solange der Mensch das hat, was in seinem Willen ist, und solange sein Wille
ist, den allerliebsten Willen Gottes zu erfüllen, der Mensch hat nicht die Armut, von der
wir sprechen wollen, denn dieser Mensch hat einen Willen, mit dem er dem Willen
Gottes genug tun will, und das ist nicht das Rechte. Denn will der Mensch
wirklich arm sein, so soll er seines geschaffenen Willens so entledigt sein,
wie er war, als er nicht war. Und ich sage euch bei der ewigen Wahrheit, solange
ihr den Willen habt, den Willen Gottes zu erfüllen, und irgend nach der
Ewigkeit und nach Gott begehret, so lange seid ihr nicht richtig arm; denn das
ist ein armer Mensch, der nichts will und nichts erkennt und nichts begehrt.
Als ich in meiner
ersten Ursache stand, da hatte ich keinen Gott und gehörte mir selbst; ich
wollte nichts, ich begehrte nichts, denn ich war ein bloßes Sein und ein
Erkenner meiner selbst und wollte kein anderes Ding; was ich wollte, das war
ich, und was ich war, das wollte ich, und hier stand ich ledig Gottes und aller
Dinge. Aber als ich aus meinem freien Willen hinausging und mein geschaffenes
Wesen empfing, da bekam ich einen Gott; denn als keine Kreaturen waren, da war
Gott nicht Gott; er war, was er war.
Als die Kreaturen wurden und ihr geschaffenes Wesen anfingen, da war Gott nicht
in sich selbst Gott, sondern in den Kreaturen war er Gott. Nun
sagen wir, dass Gott danach, dass er Gott ist, nicht ein vollendetes Ziel der
Kreatur ist und nicht so große Fülle als die geringste Kreatur in Gott hat.
[...] Deshalb bitten wir darum,
dass wir Gottes entledigt werden und die Wahrheit vernehmen und der Ewigkeit
teilhaftig werden, wo die obersten Engel und die Seelen in gleicher Weise in dem
sind, wo ich stand und wollte, was ich war, und war, was ich wollte. So soll
der Mensch arm sein des Willens und so wenig wollen und begehren, wie er wollte
und begehrte, als er nicht war. Und in dieser Weise
ist der Mensch arm, der nichts will.
Meister Eckart
aus Meister Eckarts Mystische Schriften, hrsg. von Gustav Landauer, 1903
http://www.marschler.at/eckhart-landauer/meister-eckhart-mystische-schriften.pdf
Von der Armut des Geistes (2)
Von der Armut des Geistes (3)
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