Sonntag, 15. April 2012

"Gott ist an diesem Ort und ich wusste es nicht"


   Unser lieber Herr spricht, dass das Reich Gottes nahe bei uns ist. Ja, das Reich Gottes ist in uns, und Sankt Paulus spricht, dass unser Heil näher bei uns ist, als wir glauben. Nun sollt ihr wissen, wie das Reich Gottes uns nahe ist. Hiervon müssen wir den Sinn recht achtsam merken. Denn wäre ich ein König und wüsste es selbst nicht, so wäre ich kein König. Aber hätte ich die feste Überzeugung, dass ich ein König wäre, und meinten und glaubten das alle Menschen mit mir, so wäre ich ein König und aller Reichtum des Königs wäre mein. So ist auch unsere Seligkeit daran gelegen, dass man das höchste Gut, das Gott selbst ist, erkennt und weiß. Ich habe eine Kraft in meiner Seele, die Gottes allzumal empfänglich ist. Ich bin dessen so gewiss, wie ich lebe, dass mir kein Ding so nahe ist wie Gott. Gott ist mir näher, als ich mir selber bin, mein Wesen hängt daran, dass Gott mir nahe und gegenwärtig ist.
   Und darum ist der Mensch selig, weil er Gott erkennt und weiß, wie nahe ihm Gott ist. Nicht davon ist er selig, dass Gott in ihm ist und ihm so nahe ist und dass er Gott hat, sondern davon, dass er Gott erkennt, wie nahe er ihm ist, und dass er Gott wissend und liebend ist, und der soll erkennen, dass Gottes Reich nahe ist.
   Wenn ich an Gottes Reich denke, dann befällt mich tiefes Schweigen, seiner Größe wegen; denn Gottes Reich ist Gott selbst mit all seinem Reichtum. Gottes Reich ist kein kleines Ding: Wer an alle Welten dächte, die Gott machen könnte, das ist nicht Gottes Reich. Der Seele, in der Gottes Reich erglänzt und die Gottes Reich erkennt, braucht man nicht predigen oder lehren, sie wird von ihm belehrt und des ewigen Lebens getröstet. Wer weiß und erkennt, wie nahe ihm Gottes Reich ist, der kann mit Jakob sprechen: »Gott ist an diesem Ort und ich wusste es nicht.«

Meister Eckart



Aus Meister Eckarts Mystische Schriften, hrsg. von Gustav Landauer, 1903
http://www.marschler.at/eckhart-landauer/meister-eckhart-mystische-schriften.pdf

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