Mittwoch, 18. April 2012

Meiner Seele Morgenlicht, sei nicht fern, o sei nicht fern!


Meiner Seele Morgenlicht, sei nicht fern, o sei nicht fern!
    Meiner Liebe Traumgesicht, sei nicht fern, o sei nicht fern!
Leben ist, wohin du blickst, Tod, wo du dich wendest ab;
    Hier, wo Tod mit Leben ficht, sei nicht fern, o sei nicht fern!
Ich bin Ost, in dem du auf-, West, in dem du untergehst;
    Licht, das meine Farben bricht, sei nicht fern, o sei nicht fern!
Ich, dein Bettler, bin der Fürst, dein Gefangner, ich bin frei,
    Meine Lust ist meine Pflicht; sei nicht fern, o sei nicht fern!
Sieh, wie mich der Turban schmückt, mich der Parsengürtel ziert,
    Wie mich Kutt' und Strick umflicht; sei nicht fern, o sei nicht fern!
Feuerdiener und Brahman', Christ und Muselman bin ich,
    Du bist meine Zuversicht, sei nicht fern, o sei nicht fern!
In Pagoden, in Moscheen, und in Kirchen, mein Altar
    Ist allein dein Angesicht; sei nicht fern, o sei nicht fern!
Ew'ger Mittelpunkt der Welt, mit Gebet umkreis' ich dich;
    Weich' aus deinem Kreise nicht, sei nicht fern, o sei nicht fern!
Weltgericht und Seligkeit, Seligkeit ist, wo du nahst,
    Wo du weggehst, Weltgericht; sei nicht fern, o sei nicht fern!
O Weltrose, dich hervorbringen wollend, sieh, wie rings
    Aus Herzknospen Sehnsucht bricht; sei nicht fern, o sei nicht fern!
Hör', wie gellend in der Nacht, Rose, jede Nachtigall
    Laut aus meiner Seele spricht: Sei nicht fern, o sei nicht fern!
Die Beschwörung, der du nie widerstehn, o Liebe, kannst,
    Ist Dschelaleddins Gedicht: Sei nicht fern, o sei nicht fern!


Dschalal-ad-Din ar-Rumi

in der Nachdichtung von Friedrich Rückert


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