Donnerstag, 24. Oktober 2013

Gott lässt sich nur von der Liebe fassen


Jetzt wirst du mich fragen: "Wie soll ich an Ihn denken, und was ist Er?" Darauf kann ich dir nur antworten: Ich weiß es auch nicht. Denn du hast mich mit deiner Frage in die gleiche Dunkelheit und in die gleiche Wolke des Nichtwissens versetzt, in der ich dich selbst gern sähe. Denn alle anderen Geschöpfe und ihre Werke ja sogar die Werke Gottes selbst kann man durch Gnade zur Gänze erkennen, und es ist gut möglich, sich mit ihnen in Gedanken zu beschäftigen. Aber Gott selbst kann kein Mensch gedanklich erfassen. Und daher will ich alles, was ich denken kann, hinter mir lassen und zum Gegenstand meiner Liebe das erwählen, das nicht gedacht werden kann. Denn Gott kann wohl geliebt, aber nicht gedacht werden. Von der Liebe lässt er sich fassen und halten, vom Intellekt jedoch nicht. Und wenn es darum auch zuweilen gut ist, an die Güte und Erhabenheit Gottes im besonderen zu denken und wenn das auch den Geist erleuchtet und einen Teil der mystischen Kontemplation bildet, müssen doch solche Gedanken bei diesem Werk abgeworfen und mit einer Wolke des Vergessens bedeckt werden. Sodann musst du mit festem, freudigem Schritt über sie emporsteigen und mit einer innigen und süßen Liebesregung versuchen, das Dunkel, das über dir ist, zu durchdringen. Bohre den spitzen Speer der sehnenden Liebe in diese dichte Wolke, und lass nicht davon ab, was immer geschehen mag.


Die Wolke des Nichtwissens  (Kapitel 6)
(Ende des 14. Jahrhunderts)



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