Sonntag, 4. März 2018

Die Liebe grüßte mich...



Die Liebe grüßt’ mich, 
doch meine Seele wich weg
voll Schuld und Sünd und Schmutz.
Doch die scharfäugige Liebe, die mein Zögern sah,
als ich am Eingang stand,
trat näher, stellte zart die Frage,
ob irgend etwas fehlt. 
"Ein Gast", erwidert’ ich, "der wert ist, hier zu sein."
Sie sprach: "Du sollst es sein."
"Bin ich nicht lieblos, undankbar?
 Geliebter,
 ach, wie könnt’ ich dich anschaun!""
Die Hand nahm Liebe, lächelnd wand sie ein:
"Wer schuf das Aug’ als ich?" 
"Wahr, Herr! Doch ich verdarb es; meine Schmach
sei, wo sie hingehört."
"Weißt du denn nicht," sprach Liebe, "wer die Schande trug?
Lass dienen, Liebster, dir.
Du setz’ dich hin, sprach Liebe, kost’ mein Mahl!"
So setzt’ ich mich und aß.

George Herbert
(1593-1633)



veröffentlicht in dem Gedichtband "Temple", 1633, kurz nach seinem Tod

Übertragung aus: G. Stachel,
Simone Weil - Christus - die katholische Kirche, in:
Religionspädagogische Beiträge 37/ 1996, S. 78 f


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