Freitag, 1. Februar 2013

Wie zu Dir gelangen,o Gott, der Du die Unendlichkeit bist?



      Herr und Gott, Helfer derer, die Dich suchen, ich schaue Dich im Garten des Paradieses und ich weiß nicht, was ich sehe, denn ich sehe nichts Sichtbares. Ich weiß allein, dass ich weiß, dass ich nicht weiß, was ich sehe, und dass ich es nie wissen kann. Ich weiß nicht, wie ich Dich benennen soll, weil ich nicht weiß, wer Du bist. Und wenn irgend jemand mir sagte, Du würdest mit diesem oder jenem Namen genannt, dann wüßte ich schon dadurch, dass er einen Namen nennt, dass dies nicht Dein Name ist. Die Mauer, jenseits welcher ich Dich schaue, ist die Grenze für jede Weise einer Namens-Bezeichnung. 
   Legte irgend jemand eine Begriffsbildung [conceptum aliquem] dar, mit dem Du begriffen werden solltest, dann wüßte ich, dass dies nicht ein Begriff für Dich ist: jeder  Begriff findet seine Grenze an der Mauer des Paradieses. Und wenn jemand irgendein Gleichnisbild darlegte und behauptete, man müsse Dich danach erfassen, dann wüßte ich gleichermaßen, dass dies kein Gleichnis für Dich ist.  Genauso: wenn jemand eine Vernunfterkenntnis von Dir berichtete, und damit ein Mittel geben wollte, Dich zu erkennen, dann wäre dieser Mann noch weit von Dir entfernt. Von allem diesem bist Du durch eine hohe Mauer getrennt. Sie trennt alles, was gesagt oder gedacht werden kann, von Dir, weil Du von allem dem, das in das Begriffsvermögen irgendeines Menschen fällt, losgelöst und frei [ab his omnibus absolutus] bist.
   Erhebe ich mich ganz hoch, so sehe ich Dich als die Unendlichkeit. Als diese bist Du unerreichbar, unerfassbar, unnennbar, unvermehrbar und unsichtbar. Darum muss der, welcher sich Dir nähert, sich über jede Grenze, jedes Ende und Endliche erheben. Aber wie soll er zu Dir, dem End-Ziel, auf das er zustrebt, gelangen, wenn er sich über das Ende erheben muss? Tritt nicht der, der sich über das Ende erhebt, in das Unbegrenzte und Unbestimmte, d. h. – hinsichtlich der Vernunfterkenntnis – in Unwissenheit und Verdunklung, die der vernunfthaften Unbestimmtheit eigen sind? 
    Das Vernunft-Denken muss unwissend und ins Dunkel gestellt werden, wenn es Dich sehen will. Indes – was anderes, mein Gott, ist diese Unwissenheit der Vernunft als die wissende Unwissenheit? Kein anderer kann zu Dir herankommen, o Gott, der Du die Unendlichkeit bist, als nur derjenige, dessen Vernunft in Unwissenheit ist, d. h. jener, der weiß, dass er von Dir nichts weiß.




Nikolaus von Kues

aus: Vom Sehen Gottes (De visione dei ), Kap. 13 (Wie Gott als die absolute Unendlichkeit gesehen wird)


www.hoye.de/cus/visione.pdf

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